Millenium Magic

Judith • 10. Februar 2023

Wir sind mit allem verbunden.

Das neue Jahrtausend werde ich in der Wüste begrüßen, fernab vom Dröhnen der Stadt mit ihren kräfteraubenden Parties, jenseits der Zivilisation, endlich allein mit mir selbst.



Begleitet vom eifrigen Geflüster des allgegenwärtigen Windes mache ich mich am Nachmittag auf den Weg.

Zwischen spitzfingrigen Kakteengewächsen und duftenden Kräutern wandere ich den schmalen Pfad zu den silbriggrauen Felsformationen hinauf, nicht ohne wie ein staunendes Kind alle paar Schritte stehen zu bleiben, um ein fremdartiges Gewächs, einen bunten Stein oder ein mir unbekanntes Insekt zu bewundern. Aus respektvollen Abstand versteht sich. Zumindest, was die Insekten angeht.

Meine Großtante Layla hat mir eingeschärft, ich müsse unter allen Umständen vor Einbruch der Dunkelheit an „meinem Platz“ angekommen sein. Ihre durchdringenden dunklen Augen hatten mich prüfend angesehen, etwa in der Art, wie man ein Stadtkind mustert, dass zum ersten Mal im Begriff ist, seinen trotteligen Fuß in den Dschungel zu setzen.


„Weißt Du“, begann sie und ihre Stimme gluckste belustigt, „nicht alles, was hier kreucht und fleucht möchte dein bester Freund sein. Und merke dir, nur weil etwas klein ist, heißt es noch lange nicht, dass es ungefährlich ist.“ Sie kaute sinnend auf ihrem ausgefransten Süßholzstengel und fuhr dann fort, „also, hier gibt es Spinnen, schwarze Witwen, wenn Du weißt, was ich meine. Im Allgemeinen sind sie harmlos, da sie ein friedliches Naturell haben und sich lieber davon machen, wenn so ein zweibeiniges Trampeltier kommt. Wenn du allerdings im Dunkeln deinen süßen Hintern auf einer von ihnen platzierst, nun, dann könnte das für Euch beide schlecht ausgehen.“

Mein ungläubiges Entsetzen stand mir wohl ins Gesicht geschrieben, denn sie lachte ihr tiefes, heiseres Lachen, dass mich jedes Mal an eine listige alte Bärin denken ließ.


„Komm schon, mein kleines Häschen, ich zeig Dir, wie Du sie ausfindig machst und im Handumdrehen ist dein Schlafplatz spinnensicher und so gemütlich wie nur irgendwas.“

Den Rest des Nachmittags verbrachte ich also damit, einen Crashkurs zum Thema „giftige Tiere in der kalifornischen Wüste im Allgemeinen, und im Speziellen auf Tante Laylas Land“ zu belegen, und mit jedem Quentchen Wissen mehr über die Toxikologie der heimischen Fauna erschien mir mein Vorhaben, die Nacht mutterseelenallein oben auf dem Felsplateau zu verbringen, zunehmend lebensmüde.

Doch Layla lächelte nur ob meiner Bedenken und klopfe mir mit ihrer Bärenpranke beruhigend auf den Oberschenkel.


„Ich bin seit 50 Jahren hier draußen, Herzchen“ sagte sie, „und nichts und niemand hat mir hier jemals auch nur ein Häärchen gekrümmt. Da wird ja wohl selbst eine Stadtpflanze wie Du eine einzige Nacht überleben.“

Wohlweislich unterließ ich es sie zu fragen, wieviele Nächte sie schon draußen in der Wüste geschlafen hatte.

Ich wurde also den Nachmittag über zu einer möglichst strebsamen Musterschülerin in Bezug auf Giftschlangen, Skorpione und Spinnen, und gerade, als ich begann, mich dank meines neu erworbenen Wissens sicherer zu fühlen, erstickte Layla mein aufkeimendes Selbstbewusstsein im Keim.


„Gut, gut, Juniper“, brummelte sie „ Du scheinst ja doch nicht gänzlich aus der Art geschlagen zu sein. Aber jetzt sehen wir uns noch die großen Jungs an, denn die sind auch gerne nachts da oben unterwegs. Weißt Du, dass wir seit ein paar Jahren wieder Berglöwen in der Nachbarschaft haben?“


Ja, Layla hatte immer schon ein Händchen für die richtige Prise Dramatik, aber zugleich war ich mir sicher, dass sie mir niemals erlaubt hätte allein auf dem Berg zu übernachten, sollte sie dort eine ernsthafte Gefahr für mich vermuten.

Als ich mein kleines Felsplateau erreiche, steht die Sonne schon ziemlich tief. Es ist immer noch mild, hier in der Wüste sinkt die Temperatur selbst in einer Winternacht kaum unter 18 °Grad.

Wie Tante Layla es mir beigebracht hat, suche ich meinen Platz gründlich nach unerwünschten Gästen ab. Nun, genau genommen ist es umgekehrt, es ist ihr Platz und ich bin der Gast.

Die Aussicht hier oben ist atemberaubend und fegt die letzten Zweifel mit einem einzigen Windstoß hinweg. Ich sehe sie geradezu die Felswände hinabtorkeln, bis hinunter in die dämmrig schimmernde Ebene, wo sie dann in der Ferne mit den Staubteufeln in der Abendbrise um die Wette tanzen.

Hier oben dagegen scheint die Luft sich zu kräuseln, sie führt ein widerspenstiges Eigenleben aus verwirrenden Düften und kleinen, frechen Böen. Gestern hat es geregnet, ein seltenes und willkommenes Ereignis, und ich schmecke noch immer die Frische der regennassen Salbeibüsche.

Ich lasse mich am Fuße des noch sonnenwarmen Felsens nieder und genieße die unwirkliche Farbenpracht des Sonnenuntergangs über Tante Laylas Land. Ich fühle mich so reich beschenkt, Zeuge dieses grandiosen Schauspiels zu sein, und das lebendige Pochen meines Blutes untermalt die Gesänge der Grillen und verwandelt mich in eine Königin des Augenblicks.


Es gibt keinen schöneren Moment, keinen besseren Ort als diesen, heute, und hier.

Das alte Jahrtausend wird sterben und ein neues wird geboren werden, und ich bin eingebettet in das warme Winterlicht der Wüste, allein mit dem geschwätzigen Wind und den großen und kleinen Bewohnern dieses zaubermächtigen Ortes.


Ich packe Schlafsack und Isomatte aus und kümmere mich um das Feuer.

Ich halte es klein, aber es knistert fröhlich, und da ich es mit sonnengedörrtem, weiß gebleichtem Wurzelallerlei füttere, duftet es betörend.

Ich schließe die Augen und vertraue mich dem Herzschlag der Wüste an.

Als der Mond allmählich heraufzieht, verwandelt er das Land meiner Großtante in eine schimmernde Zauberwelt. Die Zeit dehnt sich, schlägt Wellen, genauso eigenwillig und unbezähmbar wie der Wüstenwind.


Ich bin selbstvergessen versunken in das Spiel aus Licht und Schatten, dass die silbrigen Beifußstauden anmutig in den Sand malen, als mich das laute Bersten eines ausgedörrten Astes mit Lichtgeschwindigkeit in meinen Körper zurück katapultiert. Augenblicklich stehen mir sämtliche Haare zu Berge und Adrenalin kribbelt und tobt zwischen Zehen und Kopfhaut. Die Wüste hat meine Reflexe schlagartig aus den Dämmerschlaf geweckt.

Angestrengt erforscht mein Blick die fahle Dunkelheit. Die friedliche, silbrige Schönheit versickert im steinigen Untergrund und herauf steigt eine nebelgraue Angst, erhebt sich aus den Schatten wie eine urtümliche Todesgöttin.

Ein weiteres trockenes Knacken, dann ein tiefes Knurren.

Mein Instinkt lässt mich augenblicklich erstarren. Ich werde eins mit der Felswand, dem Boden, dem Wind.

Auf der Höhe meines Herzens löst sich ein schimmerndes Etwas mit einem lautlosen Ziehen, trennt sich behutsam vom Rest meines Körpers,vielleicht ist es meine Seele auf dem Sprung, bereit zur Flucht.

Jetzt Rascheln und Knurren, dann ein zufriedenes Schnauben und ein dumpfes Schmatzen.


Der charakteristisch metallische Geruch von Blut wabert durch die Rauchschwaden des Feuers zu mir hinüber und löst die Erstarrung, so dass mein eigenes Blut augenblicklich und wie in Resonanz wild und in heißen Wellen durch meinen Körper jagt. Mein Blick schärft sich, und als die Wolken den Mond freigeben, offenbart sich mein Gegenüber.

Ein riesenhafter, genüßlich schmatzender Berglöwe, nur wenige Meter von mir entfernt.

Er kauert auf der anderen Seite des Feuers, den grünen Blick nachdenklich auf mich gerichtet und offenbar hat er entgegen aller Vernunft keinerlei Scheu vor mir oder dem Feuer.

Ganz im Gegenteil, denn nun schleift er seine bemitleidenswerte Beute noch etwas näher heran und ins Licht, dann lässt er sich wieder anmutig nieder und widmet sich konzentriert seiner Mahlzeit, ohne mich dabei jedoch aus den Augen zu lassen.

Ich verharre immer noch regungslos, doch in den Schock mischt sich jetzt leise Faszination.

Immer noch getrennt in Körper und Seele kann ich das feine, lebendige Pulsieren an deren Grenze wahrnehmen. Mein Atem beruhigt sich in dem Maße, wie mein Geist sich ausdehnt, weit über meinen Körper hinaus, vorsichtig tastend in Richtung der Raubkatze.

Der Puma auf der anderen Seite des Feuers quittiert das mit einem offenbar zufriedenen Gähnen und leckt sich die Lefzen. Dann ruckt er noch einmal an seiner Beute und ich erkenne, was er so genüsslich verzehrt.

 Der flackernde Schein meines kleinen Feuers bricht sich im weit offenen Auge eines Fohlens.

Ich warte auf den scharfen Schmerz, den diese Erkenntnis in mir auslösen sollte.


Der Berglöwe unterbricht sein Mahlzeit abermals und beobachtet mich intensiv, sein klarer, funkelnder Blick brennt sich durch meine Haut, durch mein Fleisch, bis er in meinem Herzen seinen Anker auswirft. Wieder dehnt sich die Zeit, krümmt sich, umschmeichelt mich und verliert sich.


Ich sehe Bilder, Geschichten in Fetzen, Blut, dass aus einem kleinen Schnitt an meinem Handgelenk tropft, sandfarbenes Fell unter meinen Fingern. Ich höre die fremdartig vertraute Sprache meiner Großeltern, ein weicher Singsang direkt an meinem Ohr. Und dann erklingt die Stimme des Berglöwen, tief auf dem Grunde meines Herzens, er spricht in einer Sprache jenseits von Worten, jenseits von Gedanken und Wissen.

Was er mir zeigt, lässt sich nur unbeholfen und ungelenk übersetzen, denn seine Sprache ist so viel tiefer und lebendiger als die unsere.

Er erzählt von seiner Liebe zum Duft der Wüste, von seinem Spiel mit dem Wind, von der Freude zu laufen, von der Grazie des schwarzen Fohlens, wie es tanzte, zuerst an der Seite der Stute, dann mit ihm während der kurzen Jagd, er erzählt davon, wie er seine Klauen in das weiche Fleisch grub, wie anmutig die Seele des Fohlens mit dem Wind davon huschte, wie köstlich das Blut schmeckte, er zeigt mir die Schönheit des Lebens, der Jagd und des Todes.

Ich wandere mit ihm. Ich bin der Puma, ich bin der Wind, die Grillen, die sengende Hitze und der lebensspendende Regen.

Ich bin das Fohlen, das warme Blut, dass den Boden tränkt, ich bin der Fels und der Sand.

Das Feuer zwischen uns, lesen wir ein jeder in der Seele des Anderen, zeitlos versunken im Augenblick.

Als alles gesagt und gesehen ist, erhebt sich der Puma geschmeidig, den Fohlenkopf zwischen den Zähnen und trottet gelassen in die tanzenden Schatten zurück.

Ich fühle mich lebendig und verletzlich zugleich, und ja, glücklich.

Während der Puma gemächlich davon schreitet, löst sich ein Teil meiner Seele mit einem eigentümlich hellen Klingen und eilt dem Puma in die Schatten hinterher. Zugleich spüre ich, das etwas wildes, fremdartiges das fließende Gewebe meiner Seele berührt und dort seinen Platz einnimmt.

Der Berglöwe und ich, wir sind verbunden, die Wüste hat uns ein Band geknüpft aus Blut, Wind, Sand und Feuer.


Den Rest der Nacht verbringe ich halb wach, halb träumend in der Welt meiner Vorfahren.

Als ich schließlich zurückkehre ins Hier und Jetzt, kriecht die Sonne bereits über die Bergkuppe. Ihre Strahlen fangen sich in den funkelnden Tautropfen eines frisch gewebten Spinnennetzes.

Ein unordentliches, wirres Gespinst zieht sich vom Ast des Salbeibusches zu meinem linken Wanderstiefel, unverkennbar das Werk einer fleißigen schwarzen Witwe.

Ich schlüpfe aus dem Schlafsack und sorgsam auf den Boden achtend gehe ich barfuß um die Reste meines kleinen Feuers.

Dort muss er gelegen haben. Und da, ja genau da seine Beute, ich erinnere mich an das seltsame Starren des Fohlenauges...aber nein, es sind keine Spuren zu erkennen, nichts, was darauf hindeutet, dass unsere Begegnung real war.

Tränen schießen mir in die Augen, unerwartet schmerzhaft. Mit einem Mal will ich nur noch nach Hause.


Es wird rasch warm, die Wüste erwacht. Behutsam setze ich die kleine schwarze Spinne aus meinem Schuh ins Gebüsch und mache mich auf den Heimweg. Heute kann mich der Zauber der Wüste nicht beeindrucken. Ich traure um meinen Gefährten, um mich, um meine betrogene Seele.

Tante Layla erwartet mich mit Pancakes und starkem Kaffee. Als sie mich umarmt, rümpft sie die Nase. „Du stinkst wie ein wilde Katze“, brummt sie und zieht fragend die buschigen Augenbrauen hoch.

„Apropos Katze“, sagt sie dann langsam und fixiert mich mit ihren schwarzen Bärenaugen, „heute Nacht muss ein Puma unterwegs gewesen sein... Und weißt Du, was der Bursche gemacht hat? Anstatt seine Beute zu verschleppen, hat er sie mir in den Garten gelegt. Na ja, genau genommen-“

Ich renne hinaus, bevor sie ihren Satz beenden kann.

Hinter dem kleinen Steingarten, zwischen den Stauden und nur wenige Meter von meinem Campingbus entfernt, liegt, wie sorgfältig drapiert, der Schädel eines nachtschwarzen Fohlens, in dessen weit aufgerissenem Auge sich das Leuchten der Morgensonne spiegelt.

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