Einem Ungeheuer Blumen schenken
Den Erinnerungen ins Auge sehen.

„Du musst den Drachen von der Leine lassen.“
Der Satz hallt lange in ihr nach, wie ein Echo, dass im Wald von einer verborgenen Felswand zurück geworfen wird, immer und immer wieder, bis es in der Dunkelheit verklingt.
Der Gedanke macht ihr Angst.
Ihn umzusetzen braucht es mehr als diese eine mutige Entscheidung nach einer durchwachten Nacht am Ufer der Seine, das stetige Glucksen des Wassers unter sich und die tröstende Hand eines Freundes auf ihrer Schulter.
„Den Drachen von der Leine lassen“ echot es noch einmal. Seine Ketten lösen.
Was wird er tun?
Seine dunklen, verkrüppelten Schwingen ausbreiten, sie in den Himmel recken, die frische, eisige Luft der Winternacht in seine Lungen strömen lassen, während sich eine Ahnung von Freiheit in ihm breit macht? Sie verschlingen? Sie bestrafen?
So viel Mühe hat sie darauf verwandt, seine Ketten zu schmieden und ihm ein sicheres Verlies zu erbauen, feuerfest, abgelegen, verborgen unter tiefem Fels inmitten einer stürmischen See, weit ab von ihrem echten Leben.
Wie ist es möglich, dass er dort unten in den finsteren Verliesen ihres Gedächtnisses all die Jahre überleben konnte, abgemagert zwar und geschwächt, aber dennoch immer mit demselben lebenshungrigen Leuchten in seinen flammendroten Augen.
Wenn sie an seine nachtschwarze Schönheit denkt, schmerzt es, und insgeheim hofft sie, er und alles, was dort unten lauert, möge lautlos verschwinden und sie ihr unscheinbares kleines Leben weiterleben lassen, unbehelligt von den Schatten der Vergangenheit.
Und gleichzeitig weiß sie, solange sie atmet, wird er es ebenfalls tun, ganz gleich wie ausgehungert er auch sein mag, denn er ist der Hüter.
Also wird sie heute hinuntersteigen in das Drachenverlies, wie sie es dem Freund in jener Nacht versprochen hat, müde von den Tränen und ermutigt von seiner Beharrlichkeit.
Sie steht am Fenster, beobachtet die Stille der Nacht, den hypnotischen Tanz der herabschwebenden Schneeflocken, dann zieht sie die schweren Vorhänge zu und entzündet die Kerzen.
Sie bilden einen Kreis unruhig flackernder kleiner Flammen, in dessen Mitte sie sich niedersetzt, auf das weiche, rubinfarbene Kissen, den Umhang von derselben Farbe um die Schultern gelegt. Ein einziges Wort in der Alten Sprache, aufsteigend aus den Untiefen ihres Gedächtnisses, laut ausgesprochen und es gibt kein Zurück mehr.
Das vertraute Zittern setzt ein, dieses eigenartige Gefühl, wenn sie hinabtaucht, sich ihr ganzes Sein nach innen zu wenden scheint, das Taumeln, der Schwindel, und dann der Sturz ins Bodenlose, das körperlose Schweben, bis sich die Finsternis allmählich ausdünnt, und sie wieder Grund unter den nackten Füßen spürt.
Kälte. Scharfkantige Steine oder...Knochensplitter.
Ein eigentümlich graues Licht, dass von überall zugleich zu kommen scheint, und die Umgebung nur erahnen lässt. Sie atmet die schwefelhaltige, beißende Luft und weiß, er ist ganz in der Nähe.
Sie greift nach dem filigranen Knochen, den sie wie ein glückbringendes Amulett stets um den Hals trägt. Und wie immer findet sie Trost in seiner glatten, unerschütterlichen Wärme. Sie schüttelt die Übelkeit ab und tastet sich behutsam voran.
„Es ist wie einem Ungeheuer Blumen schenken,“ hat ihr der Freund gesagt. „Leicht und schwer zugleich.“
Dort oben, an der Oberfläche, seine warme Hand in der ihren, war ihr das romantisch und großmütig erschienen, aber hier unten, allein in der feindseligen Kälte ihrer Erinnerung erscheint es ihr lächerlich und ja, erschreckend naiv.
Ein gleißender Feuerstrahl erhellt die steinerne Höhle für einen kurzen Moment.
Natürlich, so heißt er sie willkommen, die Flammen versengen beinah den Saum ihres Umhanges. Im selben Augenblick entzünden sich die mannsgroßen Fackeln, angebracht in gusseisernen Halterungen, und erfüllen die Höhle mit tanzenden Schatten und orangefarbenem Licht.
Sein wilder Gesang erfüllt schmerzhaft das Innere ihres Schädels, sie presst die Hände auf die Ohren, eine sinnlos Geste des Schutzes. Mühevoll entsinnt sie sich der eigenen Stimme.
„Hüter“, singt sie in der Alten Sprache, „es ist an der Zeit. Lange genug hast Du hier unten gewacht, die Türen mit Deinen Flammen versiegelt. Jetzt versiegt meine Kraft, und der Bann wird gebrochen. Du bist frei. DU BIST FREI.“
Sie fällt auf die Knie, spürt unter sich die morschen Knochen bersten.
Ihre Hand greift nach der Kette, die sie immer trägt, seit sie dieses Ort erschuf.
Sie löst den Verschluss.
Sie spürt, dass der Drache sie beobachtet, ahnt das hoffnungsvolle Glitzern in seinen rubinroten Augen.
Sie hält den winzigen Knochen der Kette zwischen Daumen und Zeigefinger. Langsam kommt sie auf die Füße, und geht auf die erste in den Fels eingelassene Tür zu, tastet nach dem Schloss.
Der Knochen, der Schlüssel. Ohne einen Laut zu verursachen, öffnet sie die erste Tür, dann die zweite, die dritte, bis alle Türen beidseits des Korridors offen stehen.
Der Drache beobachtet sie schweigend, abwägend, die Augen schmale Schlitze.
Sie wendet sich ihm zu, sich ihrer Zerbrechlichkeit bewusst werdend ob seiner gigantischen Größe. Zögernd neigt er seinen stachelbesetzten Schädel zu ihr herab. Sie berührt seine kohlschwarzen Schuppen auf der Stirn und für einen Moment schließen die Frau, der Drache die Augen.
Dann tastet sie sich vor, streicht mit der Hand suchend über den warmen Panzer und findet den eisernen Ring um seinen Hals. Polternd fällt der massive Reif zu Boden, zermalmt den Knochenschlüssel unter sich.
Ein Beben durchläuft den Felsen, der Untergrund erzittert, der Drache hebt den Kopf und seine Stimme hallt wie Donner von den Wänden wieder. Zugleich drängen die Gefangenen aus ihren Zellen, großäugige, bleiche, ausgehungerte Gespensterwesen mit grotesken Körpern und riesigen, schwankenden Köpfen.
Der Drache schweigt, neigt noch einmal seinen mächtigen Kopf zu ihr hinab und berührt zum Abschied sanft ihre Wange. Dann stößt er sich unbeholfen vom Boden ab, fliegt taumelnd und schwankend den Krater empor, wo weit über ihm der Nachthimmel ihn erwartet.
In Kreisen schraubt er sich höher und höher, mit jedem Flügelschlag etwas von seiner alten Kraft zurück gewinnend, bis er schließlich über den Rand des Kraters in die Freiheit entschwindet.
Erschöpft schließt sie die Augen. Ihr Hüter, er ist fort.
Die eigentümlich durchscheinenden Gestalten wenden sich ihr zu, die verdrehten Gliedmaßen ausgestreckt, ihre Münder schwarze Löcher.
Sie will sich an den Hals greifen, den vertrauten Anhänger umklammern, aber da ist nichts, nur ihre kühle glatte Haut und darunter das Schweigen ihres erstarrten Herzens.
Das erste Wesen ergreift gierig seufzend ihre Hand und sie wappnet sich gegen den Schmerz.
Bilder fluten ihr Gehirn, branden wild gegen das Innere ihrer Schädeldecke, als die erste Erinnerung von ihr Besitz ergreift.
Sie selbst ein Kind, die Stimme der Mutter, das Feuer, der Geruch verbrannten Fleisches.
Keuchend sinkt sie zu Boden.
Schon schwebt die nächste Gestalt heran, berührt nebelzart ihren Arm, eine weitere streicht ihr über die Wange, greift nach ihrer Schulter, berührt ihr Haar.
Die Bilder sind klar, scharfkantig und wie Scherben durchdringen sie mühelos die schützenden Schichten ihres Bewusstseins, schneiden tiefer und tiefer, kreuz und quer, erzeugen ein wildes Kaleidoskop aus sorgfältig weggeschlossenen und vergessen geglaubten Erinnerungen, ein wirbelndes, tanzendes Chaos.
Ein Wirbelsturm, der die papierdünne Sicherheit ihrer Realität hinwegfegt, die Illusion der Kontrolle in Fetzen reißt und mit spielerischer Beiläufigkeit die kunstvoll gefertigten Masken, die sie dort oben in der Welt zu tragen pflegt, zu Staub zerfallen lässt.
Sie wird, zerrissen und bloß, ihrer Rüstung beraubt, hier unten bleiben müssen, ihre eigenen Kerker bewohnend.
Bevor ihr Bewusstsein in winzige Splitter zu zerbersten droht, hört sie die sanfte Stimme ihres Freundes. „Was zu dir gehört, kehrt aus freien Stücken zurück“ sagt er und selbst jetzt spürt sie das Lächeln in seiner Stimme, „das liegt in der Natur der Dinge.“
Verzweifelt versucht sie sich an den Namen zu erinnern, den wahren Namen, nicht Hüter, nicht Drache, nicht Ungeheuer.
Ihre Erinnerungen stieben durcheinander wie Schneeflocken, ein sinnloser Tanz, immer schneller und schneller.
Seinen Name. Sie sucht seinen Namen.
Ein zierliches grau schimmerndes Mädchen, die Augen schwarze Schatten, berührt sie am Ärmel, sie will es abschütteln, nicht noch eine Erinnerung, nicht noch mehr Schmerz.
Das Mädchen reckt ihr eine kleine Hand entgegen, es reicht ihr kaum bis zur Hüfte, und auf seiner schmalen Handfläche erblüht etwas funkelnd rotes, eine Knospe zunächst, die zusehends anschwillt, wächst, sich öffnet, sich verwandelt in eine blutrote Blüte, eine Rosenblüte, inmitten der Schneeflocken, so viel Farbe.
Dem Ungeheuer Blumen schenken.
Dem Ungeheuer Blumen schenken.
Ihre Fingerspitzen berühren die Rose, greifen nach ihr, heben sie empor und zugleich ruft sie seinen Namen, dieses eine, wunderschöne Wort in der Alten Sprache.
FREUND.
Überall Scherben, Spiegelscherben und Staub und Blütenblätter und Schneeflocken und der Klang der Erinnerungen.
Dann Flügelrauschen. Schwarze Schwingen, direkt über ihr. Klauen, die ihre Oberarme umfassen, sie emporheben, Haare, ihre eigenen, die ihr ins Gesicht peitschen, die klare, eisige Nachtluft, die Sterne über ihr, das Rauschen des Meeres tief unten und der Klang einer Bronzeglocke in ihr, als der Drache seine Stimme erhebt.
Seine Stimme in ihrem Kopf, doch dieses Mal sanft und warm, nicht mehr glühend, verletzend.
Der Schmerz ebbt ab, in leisen Wellen. Schnitte, die verheilen und winzige, schneeweiße Narben hinterlassen. Scherben, die sich zu einem neuen Ganzen zusammen fügen, die Bruchstellen wie goldene Adern.
„Sie sind alle zu dir zurückgekehrt“ singt er, „ und jetzt- bist DU frei.“
Sein Gesang ist pure Freude und sie stimmt ein, leise zunächst, dann kraftvoller, ihre Stimmen, ineinander verwoben, ein Teppich aus Schmerz und Schönheit und Leben und Tod.
Sie erwacht im Kreis der heruntergebrannten Kerzen. Sie ist alleine mit der Stille der winterlichen Nacht.
Ein tiefer Atemzug hebt ihre Brust. Und noch einer. Einatmen. Ausatmen. Der Rhythmus des Lebens.
Noch erschöpft zieht sie den blutroten Umhang enger um sich, und da bemerkt sie es.
Ein Klopfen, Pochen, ein Vogel in ihrer Brust, ein winziger Drache, mit den Flügel schlagend, bebend, sich dem Leben entgegen reckend, ein rubinrotes, lebendiges, waches Herz anstelle der schwarzen Leere der verbannten Erinnerungen.